Anmerkungen zu den Gemälden und Objekten von Andreas Zingerle

Der 1963 in Brixen geborene Andreas Zingerle, welcher an der Akademie der Bildenden Künste in München studiert hat und ebendort auch als Assistent tätig war, konzentriert sich in seinen Gemälden auf die  Handhabung der Genres Figur, Körper und Porträt. Zugleich haben Figur und das Porträt in der künstlerischen Situation unserer Zeit auch etwas Entrücktes, Virtuelles und Abstraktes an sich. Wenn aber Zingerle Figur und Porträt als gezielte Bildform wählt, so geht damit einher, dass dies einer strategischen Entscheidung des Künstlers entspringt. Figur und Porträt sind bei Zingerle mehr als nur ein Vorwand, es ist entschieden ein künstlerisches Konzept, das sich als solches zu erkennen gibt und mit bewusst subjektiven stilistischen Setzungen eine Reihe von visuellen Statements gegenüber den Bilderfahrungen der Gegenwart erlaubt. Die (foto)realistische Technik ermöglicht es dem Künstler, Figur und Porträt aus den historisch überlieferten Zwängen freizuspielen.

Zingerles künstlerischer Ansatz beginnt mit seinem Interesse an der problematischen Realität von Fotografie heutzutage. Jeder wird irgendwann und –wo fotografiert und ist anhand dieses medialen Abbildes eindeutig zu identifizieren. Mit seinen momenthaften Ölbildern will der Künstler entgegenwirken und sich mit den Mitteln der Malerei einer eindeutigen Identifizierbarkeit der Abgebildeten entziehen. Dieser Kunstgriff bedeutet eine Umkehrung der klassischen Porträtmalerei. Zingerle kehrt mit seinen Porträts der kunsthistorischen Tradition der Porträtmalerei den Rücken: Spielten darin die Charakterisierung des Porträtierten über repräsentative Attribute, Aussehen und Emotionen eine große Rolle, so stellt Zingerle dem ein „Anti-Porträt“ in Graumalerei entgegen.

Anhand des Gemäldes „0715002“ (Öl auf Leinwand, 150×150 cm, 2007) möchte ich Zingerles Umgang mit dem Porträt diskutieren. Das in Grautönen gehaltene Bild zeigt im Enface ein männliches Gesicht. Im unteren linken Bildbereich stößt ein auffälliger, in schwarzer Farbe gehaltener Keil in waagerechter Ausrichtung vor das Gesicht und verdeckt dadurch Kinn und Unterkiefer. Diese formelle und malerische Intervention entrückt den in einem nicht weiter definierten Bildraum und in grauer Farbigkeit Porträtierten ganz evident. Die Ursache für dieses Porträt liegt im Moment der Begegnung Zingerles mit einer anonymen Person auf der Straße, welche im Begriff war, mit der Digitalkamera ein Foto zu schießen. Situationsbewusst sollte Zingerle ebenfalls mit dem Einsatz seiner Kamera antworten, um so den Moment des Beobachtens und beobachtet werden auf der Straßen im Getriebe anonymer Passanten als fotografische Skizze und Vorlage für das Ölbild herauszufiltern.

Für seinen bildnerischen Prozess zieht Zingerle alle Register der digitalen Fotografie. Auf den Streifzügen durch die Straßen der Städte Bozen, Karlsruhe und München fängt er mit seiner Kamera eine Vielzahl von anonymen Passanten ein. Diese medialen Skizzen werden in einem nächsten Arbeitsschritt am Computer bearbeitet, zu neuen Bildern komponiert und auf eine bestimmte Grauwertigkeit reduziert. Zingerles Verfahren, mit Porträt-Fundstücken aus der digitalen Fotografie zu arbeiten, bedeutet, vor den malerischen Schaffensprozess einen Auswahlprozess zu stellen. Im Anschluss wird die Kompositionsskizze vom Künstler mit Pinseln, Schablonen und anderen Hilfsmitteln in eine tonale Ölmalerei transformiert. In einer Art Balanceakt entwickelt Zingerle ein System, das es ihm und dem Betrachter ermöglicht, Distanz zum Sujet zu wahren; dieses System beruht auf zwei malerischen Entscheidungen, die oft gemeinsam zum Einsatz kommen. Die erste besteht darin, das Motiv unscharf zu machen, indem die Farbe verwischt beziehungsweise die noch nasse Farbe vermalt wird. Die zweite ist die Verwendung von Grautönen. Die Anzahl unterschiedlicher Techniken, mit denen der Künstler seine Bilder unscharf oder als das Gemalte rückgängig macht, ist beträchtlich. Mit der Methode, sich in ein teilweise gemaltes Bild zurückzuarbeiten, kann Zingerle ihm weniger wichtige Details eliminieren, ohne damit ein Urteil zu fällen, Formen auslassen, Übergänge entschärfen, durch mehr oder minder gleichmäßigen Farbauftrag eine einheitliche Bildoberfläche erzeugen.  Zingerles Entscheidung für ein Kolorit aus Grauwerten verbindet ihn mit Gerhard Richter. Die Relevanz der Grauwertigkeit erläutert Richter folgendermaßen: „Grau hat schlechthin keine Aussage, es löst weder Gefühl noch Assoziationen aus, es ist eigentlich weder sichtbar noch unsichtbar (…). Und es ist wie keine andere Farbe geeignet, nichts zu veranschaulichen, und zwar in geradezu illusionistischer Weise gleich einem Foto.“

Anstatt die Illusion zu erzeugen, dass der dargestellte Gegenstand und seine Umgebung greifbar nahe ist, rückt die von Zingerle gewählte Farbe Grau ihn in noch größere Ferne. Im ästhetischen Kontext einer Zeit, da lebhafte und poppige Farben das gängige Ausdrucksmittel figurativer Malerei sind, operieren leere oder farblose Farben des tonalen Spektrums als rhetorische Erwiderung und erhalten gerade dadurch, dass sie ihre Ausdruckslosigkeit kundtun, andauernde und nachhaltige Ausdrucksfunktion.

Das subtile Spiel mit dem Bildpersonal, welches sich einer eindeutigen Identifizierbarkeit entzieht, treibt der Künstler in den Arbeiten „0707015“, „0807004“ und „0707008“ ganz überzeugend weiter. Durch die anzutreffende Unschärfe in allen drei Werken verharrt Zingerle in der Andeutung.

Auf Themen des Fortbewegens und Schreitens in der Anonymität von Stadtzentren und urbanen Räumen stoßen uns die Gemälde „0812008“, „0812007“ und „0712020“. Eine schreitende Fußgängerin kommt uns im letzt genannten Werk entgegen. Die flüchtige und zufällige Begegnung mit einer Frau auf der Straße hat auch in diesem Fall die fotografische Vorlage für das Bild geliefert. Dennoch können wir dem Bildpersonal und den Bildorten bei Zingerle nicht immer trauen. Der Künstler sampelt nämlich Bildfigur und Ort. Malerisch generiert sich die Fußgängerin aus Fotografien, welche der Künstler in den Städten Bozen und Karlsruhe aufgenommen hat.

In den Porträts „0704522“, „0704533“, „0704528“ und „0704530“ (Öl auf Leinwand, je 45×45 cm, 2007) sind die Gesichter mit der Kamera auffällig herangezoomt worden. Der zu erwartende Effekt der Schärfe in der Physiognomie der Gesichter wird aber konterkariert durch die malerische Auflösung und Unschärfe. Die traditionellen Sehgewohnheiten werden hier von Zingerle aus den Angeln gehoben und implizite Erwartungen an die Bildgattung unterlaufen. Das Porträt steht nun für den Verlust von Aussage und Bedeutung.

Zingerles bildnerisches Sampeln der menschlichen Figur findet eine  Fortsetzung in seinen aktuellen Betonobjekten. Heute ist der mutierte menschliche Körper als Interface längst Realität geworden. Der durch einen offensiven gesellschaftlichen Druck und vielfältigen Möglichkeiten der Schönheitschirurgie modellierte Köper gibt sich nur noch als menschliche Hülle und wird in seiner bodygestylten Form solange zu Markte getragen, bis ihm die Luft ausgeht. Unsere Köper und die damit verbundenen Gefühle sind längst in die Konserve abgewandert, wo die reproduzierte und duplizierte Realität wahrer und perfekter als die eigentliche Wirklichkeit zu sein scheint. Ein simuliertes Leben in einer virtuellen, nur für den menschlichen Verstand gebauten Umwelt, wo alles, was Köper ist, nach Unperfektion riecht. Der Köper in der virtuellen Konserve wird überhöht und zum Fetisch stilisiert.

Für seine Betonköpfe und Körper stützt sich Zingerle in der Vorlage auf eine aufblasbare Sexpuppe. Die Sexpuppe verwandelt den menschlichen Köper in ein Objekt der Begierde, in einen Fetisch. In seiner Bedeutung betrifft Fetisch nicht nur Sexualität, sondern vor allem auch Macht und sinnliche Wahrnehmung. Alles was irrational verehrt wird, kann Fetischcharakter nachgesagt werden. Arbeitstechnisch beginnt Zingerle zunächst damit, indem er die Sexpuppe mit Sand und Sägemehl füllt. Von dieser körperlichen Matritze wird ein Gipsnegativ genommen. Das Negativmodul steht sodann für den anschließenden Betonguss zur Verfügung.

Zingerles graufarbige Figuren- und Porträtbilder verweigern die eindeutige Identifizierbarkeit der Abgebildeten und bei seinen Betonköpern und –köpfen ist von körperlicher Wärme nichts mehr zu spüren. Der Künstler hat hier eine Hommage an den vergessenen und gleichzeitig zelebrierten Körper geschaffen. In dieser Arbeit spiegelt sich im Fokus von körperlichem Fetischismus die Problematik von außen und innen wider in der Wechselbeziehung zwischen dem Individuum – mit seiner inneren Welt von Gedanken, Bedürfnissen, Leidenschaften und Träumen – und seinem Außenbild.

Was Andreas Zingerle künstlerisch beschäftigt, ist die Ikonografie des heutigen Menschen. Diese Ikonografie  schließt die fotografierten Köper anonymer Passanten auf den Straßen unserer Städte und das Surrogat der Köperhülle der Sexpuppe als Vorlagen gleichermaßen mit ein. Der  Mensch ist im 21. Jahrhundert längst zur Schnittstelle mit den technischen Systemen geworden. Ein Auslaufmodell ist er aber noch lange nicht, wie es Zingerle in seinen bildnerischen und plastischen Werken künstlerisch mit großer Überzeugung aufzuzeigen weiß.

 

Stefan-Maria Mittendorf

Kurator für zeitgenössische Kunst München