Schwere Betonleiber und – Torsi, die an menschliche Körper oder auch künstliche Häute erinnern, banale Kleidungsstücke, sonderliche Prothesen und Artefakte: die skulpturalen Arbeiten von Andreas Zingerle lassen stauen. Beton ist für den Künstler das adäquate materielle Ausdrucksmittel, um dreidimensionale Arbeiten zu gestalten, es reizt ihn, gerade dessen grobe, harte Struktur gegen den Strich zu bürsten, ihn in weiche, bisweilen zarte Formen zu gießen. Zingerle konfrontiert uns mit außergewöhnlichen, oft auch irritierenden Objekten, die unsere Wahrnehmung herausfordern und sich eindeutigen Interpretationen entziehen. Sowohl in Material wie Inhalt stehen die Arbeiten dabei in der Tradition eines erweiterten Skulpturenbegriffes. Klassische Merkmale der Skulptur werden zwar beibehalten, gleichzeitig aber neu verhandelt und kritisch hinterfragt.
Wenn in der postmodernen Kunstpraxis von Skulpturen die Rede ist, scheint oft ungeklärt, was darunter nun genau verstanden wird. Der traditionelle Gattungsbegriff bezeichnet ein körperbildendes Werk mit den spezifischen Merkmalen der Dreidimensionalität, der Positionierung im Raum und der haptischen Erfahrbarkeit. Doch im 20. Jahrhundert wird der Skulpturbegriff von künstlerischer Seite aufgebrochen und entscheidend erweitert. War die Skulptur Jahrhunderte lang Abbild der Anatomie des Menschen, so wendet sie sich am Beginn des 20. Jahrhunderts vom Prinzip des Figuralen ab. In dieser Zeit beginnt einerseits der Prozess der Abstraktion, eine Vertreibung und Zertrümmerung der Gegenstandswelt, andererseits ein Vergegenständlichen der Skulptur (man denke nur an die sogenannten „Readymades“, gewöhnliche Objekte und industriell gefertigte Gebrauchsgegenstände, die in die Kunst übergeführt und zu Skulpturen erklärt werden). Die in den 1960er und 70er Jahren eingesetzte Erweiterung des Skulpturenbegriffes (durch Joseph Beuys oder Fluxus, aber auch durch Konzeptkunst, Minimal Art und Arte Povera) schafft dann grundlegend veränderte, z.T. völlig neue Voraussetzungen und brachte eine vielfältige Öffnung in der Auswahl der Materialien und Darstellungsformen. Künstlerinnen und Künstler experimentieren mit unterschiedlichen Material- und Aggregatzuständen, sie beginnen, den traditionellen Skulpturenbegriff um die zeitliche Dimension zu erweitern, sich für das Sichtbarmachen des künstlerischen Prozesses sowie die dabei wirkenden Energien zu interessieren, sie entwickeln raumgreifende multimediale Installationen oder laden das Publikum durch Anweisungen zur Partizipation ein, bisweilen werden erst mit der Bedienung der Objekte diese zu Kunstwerken. Damit verbunden ist eine Reflexion über die künstlerischen Möglichkeiten des autonomen skulpturalen Werkes, die Grenzen zwischen Skulptur, Aktion und Performance verschwimmen. Eine Skulptur kann auch eine rein sprachliche Äußerung sein, ein Text oder eine Anweisung, ein Fotodokument, eine soziale Plastik. In letzter Zeit kann man wieder eine stärkere Auseinandersetzung mit der menschlichen Figur als Körper im Raum beobachten. Und neben den neuen, experimentell eingesetzten Arbeitsmitteln und Ausdrucksformen finden sich auch nach wie vor „klassische“ Materialien wie Bronze, Marmor oder Holz. (1)
Mit der Verwendung von Beton entscheidet sich Zingerle für einen in der Kunst eher ungewöhnlichen Werkstoff, er transformiert eine formbare, leichte Hülle (eine aufblasbare Sexpuppe ebenso wie eine konventionelle Hose) in ein statisches, schweres Objekt und verleiht ihr dadurch eine bedeutungsaufgeladene Präsenz. Und auch wenn meist figurative Körper die Arbeit bestimmen, sind diese weit von einer traditionellen skulpturalen Auseinandersetzung mit Mensch und Gegenstand entfernt. Gespannt und gepresst, verformt und verknotet: Zingerle versucht durch die Überführung in Beton Dichte, Masse und Volumen eines Körpers neu zu denken, das nicht Greifbare greifbar zu machen, ihm im besten Sinne des Wortes Gewicht und Bestand zu geben. Die Ausgangsmaterialen wie Hose oder T-Shirt werden im Urzustand belassen, mit Gips abgegossen und dann in Beton vervielfältigt, oder – etwa im Falle der zur Anwendung kommenden Sexpuppen – mit einer Mischung aus Sand und Sägespänen, bisweilen auch mit Wasser gefüllt, in die gewünschte Formen erbracht, ein Gipsnegativ angefertigt und dann in Beton gegossen (wobei eine saubere und detailreiche Wiedergabe der Oberfläche für den Künstler essenziell wichtig ist). Es ist ein lustvolles dialogisches Spiel der Gegensätze: Leichtigkeit und Schwere, Leere und Masse, Licht und Schatten. Ein Ausreizen des Materials, ein Ausloten der Grenzen des Darstellbaren, auch ein Festhalten und Sichtbarmachen der (kinetischen) Energie, die von Körper und Gegenstand auszugehen scheint oder ihn ihnen gespeichert ist.
In einer Fotoserie verschmelzen der menschliche Körper und seine Haut mit einer von der Decke hängenden Kette oder mit aufgeblasenen Volumina, in den Skulpturen wird die Haut zum formbaren Objekt. Sie ist Fetisch und Lustobjekt, modellierbare Hülle und Begrenzung. Am Boden verstreut liegend, auf Metalltischen arrangiert, an der Wand montiert (wie aus dieser heraus- wachsend) oder auch von der Decke hängend: Zingerle inszeniert die Skulpturen wie eine technisch-organische Versuchsanordnung, die in ihrer cleanen Sterilität und ihrem experimentellen Setting bisweilen an ein schauerliches Laboratorium denken lassen. Surreal in Form und Inszenierung wird die tote Materie belebt und bleibt doch immer nur Abbild einer zweiten Haut, eines Körperersatzes, Stellvertreter für den Menschen und das vom Menschen Gemachte.
Kulturgeschichtlich wird die Haut als schützende, bergende, aber auch als verbergende und täuschende Hülle imaginiert. Sie dient der Abgrenzung, ist die Grenze zwischen dem Menschen (das Innen) und seinem Umraum (das Außen), sie verdeckt und verhüllt, kann aber auch aufgerissen und verletzt werden. Einmal liegt das Authentische unter der Haut, im Leib verborgen und entzieht sich so dem Blick. Die Haut ist demnach anders als das Selbst und ihm gegenüber fremd und äußerlich gedacht. Dann wieder ist die Haut mit dem Subjekt, der Person gleich. Die „Essenz“ liegt nicht unter der Haut, im Innern verborgen, sondern ist die Haut, die für den ganzen Menschen steht. Daran geknüpft sind zwei grundlegende Arten, die Haut zu betrachten, die die zwei heute noch vorherrschenden konträren Modelle des Leib-Seele-Verhältnisses repräsen-tieren: Die Haut als Hülle und die Haut als Ich. Die Haut als Wohnung oder Haus, als umhüllende Schicht, in der verborgen sich das Subjekt befindet, steht in diametralem Gegensatz zur Haut als empfundener Grenze, die durch Sinneswahrnehmungen wie Schmerz oder Lust erfahrbar wird, als Organ der Welterschließung, aber zugleich auch als Gefängnis. (2)
Zingerles Haut hat sich vom Menschen gelöst, sie ist eine zweite, eine künstliche Hülle, kalt und technisch, steril und unnahbar. Fein säuberlich aufbereitet sehen wir modellierte und zusammengepresste Hautballen, aber auch anthropomorphe Fragmente und sich verselbstständigende organische Formen. Körperliche Mutationen – etwa Knieabgüsse, die mit unterschiedlichen Alltagsgegenständen kombiniert werden – heben die Grenzen zwischen Körper und Surrogat, Mensch und Maschine bewusst auf. Nicht der ursprüngliche Gegenstand, wie bei den „Readymades“, kommt zum Einsatz, sondern seine plastische Transformation in Gips und Beton. Sind die Arbeiten Sinnbilder für unsere hochtechnisierte Welt, in der Mensch mit Maschine immer mehr eine Einhein bildet, unsere Realität immer mehr von Künstlichkeit und Virtualität durchdrungen wird? Der Künstler möchte keine eindeutigen Antworten darauf geben.
Neben der Skulptur ist die Malerei das zweite bevorzugte Medium in Zingerles Schaffen. Fein lasiert gemalte Gestalten, die wie Schatten ihrer selbst erscheinen, verwaschene unscharfe Gesichter, die zwischen Individuum und Stereotyp angesiedelt sind: auch hier verleiht der Künstler dem Verschwindenden Form und Aussehen, will es auf der Leinwand festhalten, der Kurzlebigkeit unserer Zeit entziehen. Die gemalten Bilder verweigern sich wie die Skulpturen einer klaren inhaltlichen Lesbarkeit. In ihrer unaufgeregten Form, ihren vielfältigen zarten Grautönen (wobei sie nie ausschließlich eine Mischung von Schwarz und Weiß sind, sondern, wie der Künstler betont, immer auch etwas Gelb, Rot oder Blau beinhalten) und zurückhaltenden Bildmotiven unterscheiden sie sich unaufdringlich und selbstbewusst von der uns umgebenden multimedialen Wirklichkeit eine grellbunte Welt, in der Aufmerksamkeit erregen oft die höchste Maxime ist. Immer lauter zu sein und auf den vordergründigen Effekt aus zu zielen ist auch vielen zeitgenössischen künstlerischen Positionen nicht fremd. Wohl aber Zingerle.
Als Ausgangspunkt dienen Fotos, selbst gemachte oder auch im Internet gefundene. Sie werden digital am Computer bearbeitet und auf ihre Hell-und Dunkelwerte reduziert. Die analoge Umsetzung – mittels Schablone gesprühtes und dann fein lasiert gemaltes Öl auf Leinwand – ist aber Malerei durch und durch. Rasch löst sich der Künstler von der fotografischen Vorlage und entfernt, einem Eliminierungsprozess gleich, alles Überflüssige, bis nichts mehr die Konzentration vom eigentlichen Motiv nimmt, bis keine Details mehr auf spezifische Orte verweisen und sich das Persönliche zur Allgemeingültigkeit öffnet. Der malerische Prozess und die investierte Zeit, die Änderungen und Schichtungen, das Sprühen, das fein lasierte Malen und wieder Wegwischen ist in die Bilder eingeschrieben und stellt eine hohe Dichte her – eine Dichte, die beim Betrachten der Bilder auch spürbar und durch bewusst belassene Farbrinnspuren auch sichtbar ist. Neben den Schattengestalten malt Zingerle vor allem Portraits, Gesichter mit transparenter Haut zwischen Schärfe und Unschärfe, die sich stets in einem Spannungsfeld von Wiedererkennbarkeit und Anonymität bewegen. In einer Serie zeigt er Terrorattentäter, in einer anderen, Opfer derartiger Anschläge. Die Titel der Bilder sind die Initialen der Dargestellten. „Es hat diese Menschen gegeben“, scheint uns Zingerle sagen zu wollen, gleichzeitig verweigert er eine eindeutige Identifizierbarkeit. Er verunklärt seine Motive, lässt sie wie nebulöse, nicht fassbare Traumbilder erschienen, die jeden Moment wieder verschwinden können, noch ehe sie ganz in das Bewusstsein gedrungen sind. Sie sind Dokumente unserer Zeit und doch mehr als das. Dem Künstler geht es um das Spezifische wie Allgemeine, um das Persönliche (oder auch ihn persönlich betroffen Machende) und das drüber Hinausweisende, von grundsätzlichem, ja universellem Belang. Wieso Malerei und nicht Fotografie? Vielleicht sieht Zingerle in diesem klassischen Medium mehr Möglichkeiten, dem flüchtigen Moment Dauer, dem Beiläufigen Tiefe, dem medialen Overkill durch das Herausschälen einzelner Bildmotive Bedeutung zu geben.
Doch wie positioniert sich die Malerei in einer Welt, in der sich die Rolle des Bildes grundlegend gewandelt hat? Auch hier ein kurzer Exkurs. Lange Zeit hatte die Malerei das Monopol auf das große, farbige und wirkungsmächtige Bild. Dann aber wurde sie von der Fotografie als neues Leitmedium des Bildes abgelöst. Dennoch blieb die Malerei bis weit in das 20. Jahrhundert das unumstrittene Hauptmedium der Kunst. In den letzten Jahrzehnten hat sich das aber nachhaltig verändert. Mit weitreichenden Folgen. Die Entlassung der Malerei aus ihrem traditionellen, hegemonialen Status hat dieses Medium möglicherweise mehr noch als die Revolution der klassischen Moderne um 1900 von Bildungen und externen (etwa gesellschaftlichen) Zwängen befreit. Die Malerei als „minderheitliches Medium“ besitze keine gesellschaftliche Begründung mehr, nur noch eine künstlerische. Die neue Rolle der Malerei kann dabei durchaus als Chance gesehen werden, die in der Vielfalt und streckenweise Unabhängigkeit von den nunmehr dominierenden Bildtypen zum Ausdruck kommt. Der Maler kann in dieser Situation frei entscheiden, in welches Verhältnis zur zeitgenössischen Bildwelt, zu den anderen künstlerischen Medien und zur Tradition der Malerei er sich mit seiner Kunst begibt. Das Schöne dabei ist: heute ist alles in der Malerei möglich und erlaubt. (3)
Zingerle weiß um das Potenzial der Malerei, und er weiß es zu nützen. Seine Bilder bauen auf der Malereitradition auf, sie sind aber gegenwärtig und aktuell. Freigespielt von den Kunstdiskursen des 20. Jahrhunderts (die ihn vermutlich nicht kümmern) hat er zu einem ganz persönlichen Stil gefunden, ein Stil, der ohne Scheu und ohne es zu verheimlichen sich der Fotografie als unterstützendes Medium bedient (wie es übrigens auch schon die Maler des 19. Jahrhunderts oft getan haben). Der Künstler braucht die Fotografie, um sich von ihr zu emanzipieren. Die konzentrierten, grauen Malereien sind Gegenentwürfe zu der plakativen, eindeutigen und schnelllebigen (fotografischen) Bildsprache unserer Zeit, wie sie uns etwa auf den Social Media-Kanälen des World Wilde Web begegnet. Zingerles Bilder bleiben geheimnisvoll, uneindeutig und vielschichtig.
Den Moment festhalten, ihm Bedeutung verleihen, ist seit jeher ein zentraler Antrieb künstlerischen Schaffens. Künstlerinnen und Künstler versuchen, Zeugnisse ihrer Zeit abzugeben – eine Weltaneignung und Welterfindung in Form und Inhalt, die im besten Fall weit über ihre Gegenwart hinaus Ausstrahlung und Gewicht besitzt. So kann auch Zingerles Werk betrachtet werden: In dieser Ausprägung und Gestalt konnten seine Skulpturen und Malereien wohl nur hier und jetzt geschaffen werden, doch in ihren Themen sind sie hochaktuell und zeitlos zugleich: das Sein, der Körper, die menschliche Existenz in einer sich rasend verändernden Welt.
1 Vgl. Peter Waibel, Die Skulptur im 20. Jahrhundert. Zwischen Abstraktion, Gegenstand und Handlung, in: Österreichischer Skulpturenpark Privatstiftung (Hg.), Garten der Kunst. Österreichischer Skulpturenpark, Ostfilden 2006, S.13-26.
2 Siehe dazu Claudia Benthien, Haut. Literaturgeschichte – Körperbilder – Grenzdiskurse, Reibeck bei Hamburg, 2001 (2. Auflage), S. 27-48.
3 Siehe dazu Robert Fleck, Die Ablösung vom 20. Jahrhundert. Malerei der Gegenwart, Wien 2013, S. 23-27.
Text: Günther Oberhollenzer